Unter anderem geht es wohl um die Leistung. In Sport und Musik kann eine deutliche Leistung gemessen oder wenigstens beobachtet werden. Das Denken der Kinder und
Jugendlichen mit HKP kann man zwar teilweise messen: Mit einem IQ Test. Die meisten Kinder werden aber nicht einfach so getestet, das käme zu teuer. Ausserdem ist ein IQ-Test nicht so genau, wie
viele es meinen und sich wünschen (siehe Newsletter #4).
Aiga Stapf schreibt:
"Immer wieder fällt bei der Beobachtung Hochbegabter auf, dass sie das, was sie gerne und selbstbestimmt tun, mit höchstem Einsatz, mit Anstrengung, Energie und Ausdauer
ausführen…" (Aiga Stapf: ‚Hochbegabte Kinder. Persönlichkeit, Entwicklung, Förderung‘, 2003)
Wichtig dabei ist eben dieses "gerne und selbstbestimmt". Ein Kind, das bereits Bücher liest und nun Reihen mit Buchstaben in ein Heft schreiben muss, oder ein Kind, das bereits
im Tausenderbereich rechnet, und nun einfachste Rechnungen aufschreiben muss, kann dafür keine Motivation aufbringen. Dies wird ihm aber oft – mangels Kenntnissen und Erfahrung –
angekreidet und es muss als Strafe womöglich noch mehr davon erledigen.
Denn „wenn es nicht einmal diese einfachen Dinge lösen kann, kann es doch sicher nicht hochbegabt sein.“ Hochintelligente Kinder sind nicht immer Klassenbeste. Der Schulstoff ist für sie
dermassen einfach, dass sie oft irgendwann abhängen und nicht mehr mitmachen.
Die Aussage, dass der reguläre Unterricht für hochintelligente Kinder mit der Binnendifferenzierung (schwierigere Aufgaben für hochbegabte SchülerInnen) genüge, ist zu
kurz gegriffen. Es ist, wie wenn man zum Beispiel ein Skifahrtalent in eine Anfängergruppe schickt und sagt, er könne ja allein auf dem schwierigeren Hügel nebenan herumfahren. Oder ein
im Geigenspiel hochtalentiertes Mädchen in eine Anfängergruppe schickt und sagt, es können ja daneben selbst schwierigere Stücke üben. Niemand würde das Förderung nennen.
Es gibt zur schulischen Unterforderung und ihren Folgen verschiedene Ansichten. Manche sehen zum Beispiel die Langeweile als etwas, das mit der Persönlichkeit des Kindes
zusammenhängt. Zu Langeweile sagt ein junger hochbegabter Erwachsener in einem Interview zum Rückblick auf seine Schulzeit, er habe sich "so gelangweilt und nicht wohlgefühlt … Ich kam
relativ schnell überall draus und habe mich gelangweilt … es war ein Absitzen, ein Warten, bis ich dann ans Gymnasium kam. Ich hatte die Hoffnung, dort sei es dann spannender." Seine
Erwartungen wurden allerdings leider enttäuscht. Mitte Gymnasiumszeit wurde er abgeklärt und bekam einen halben Tag Dispensation. So konnte er die Mittelschule erfolgreich beenden (aus Tabu-Thema
Hochbegabung, Elisabeth Zollinger, 2017, 2021).
Manche sogenannten Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen mit HKP, z. B. eine Minderleistung oder ein Stören des Unterrichts, werden immer noch mit ihrer Persönlichkeit Verbindung gebracht.
Leider haben viele Fachpersonen oft wenig Erfahrung mit HKP und sehen die Zusammenhänge zwischen 'Auffälligkeiten' und schulischer Unterforderung zu wenig.
Interessant ist nämlich, dass, sobald die Situation der schulischen Unterforderung verändert werden konnte, sowohl die Langeweile wie auch die Minderleistung in der Regel verschwinden. Meist
innerhalb von zwei bis drei Wochen. Hätten die Symptome mit der Persönlichkeit zu tun, wäre dies nicht möglich.
Natürlich ist es schwieriger, schulische Unterforderung mit zu wenig denkerischer Herausforderung in Zusammenhang zu bringen. Das würde nämlich bedeuten, dass die öffentliche
Schule etwas für SchülerInnen mit HKP verändern. Es ist dagegen sehr viel einfacher, die Betroffenen in Therapie zu schicken. Allerdings nur kurzfristig: Irgendwann können so hohe Gesundheits-
oder Sozialkosten für die Gesellschaft entstehen.
Auch kommt es nicht bei allen schulisch unterforderten Kindern und Jugendlichen zu gesundheitlichen Folgen. Viele von ihnen werden aber keine besonderen Leistungen zu Gunsten unserer
Gesellschaft erbringen können. Manche kommen zum Beispiel in die Realschule, weil ihre Noten für die Sekundarschule nicht genügen. Oder sie brechen ihre Ausbildung, das Gymnasium ab.
Manchmal leben sie irgendwann von der Sozialhilfe, weil sie ihren beruflichen Weg nicht mehr finden konnten.
In unserer Gesellschaft scheint Leistung etwas vom Wichtigsten zu sein. Zur Vorstellung von Leistung gehört oft auch die Idee, ja keine Fehler zu machen. Obwohl längst erwiesen ist, dass Fehler
machen zum Lernen dazu gehört, ja dazu gehören muss. Niemand getraut sich sonst weiterzudenken, nachzufragen, Dinge in Frage zu stellen, einfach einmal darauf loszudenken. Von Kindern und
Jugendlichen mit HKP könnten wir diesbezüglich viel lernen. Doch eben, sehr viele Leute erwarten von ihnen v.a. Eines: Ausserordentliche, sichtbare und messbare Leistungen.
Wohl deshalb wird sogenannten Wunderkindern meist dermassen zugejubelt. Kinder und Jugendliche mit hohem kognitivem Potenzial sind aber nur selten Wunderkinder. Sie möchten einfach auf
ihrem hohen denkerischen Niveau, mit all der Kreativität, mit all der Fähigkeit zu vernetztem und auch hinterfragendem Denken lernen und leisten. Ob dabei etwas Messbares herauskommt, ob
dabei Preise zu gewinnen sind oder ob sie 'Ruhm und Ehre' erlangen, ist ihnen meist egal. Es geht ihnen darum, interessante Dinge zu lernen, wie der oben erwähnte jungen Erwachsene in seinem
Rückblick auf die Schulzeit sagt:
"Mir waren die Noten eher gleichgültig. Es ging mir darum, dass es spannend war, und ich habe mich in vielen Dingen auskennen wollen."